Nachtwächters Ralf Blog

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Der Nachrichter in der alten Eidgenossenschaft

Wer war der "Nachrichter"?

Der Scharfrichter wurde in der alten Eidgenossenschaft, in Süddeutschland und im Elsass Nachrichter genannt und mit “Meister” angesprochen.
Er ist derjenige, der «nach dem Richter» kommt. Das Wort stammt vom althochdeutschen «Nāchtrihhari» und bedeutet sinngemäss: „der das Urteil nachsetzt oder vollstreckt”.
Seine Aufgabe war das Foltern, um Geständnisse zu erpressen und die Ausführung der nachfolgenden Strafen an «Haut und Haar» (Körperstrafen) oder «Bis an das Blut» (Tod).


Hinrichtungsszene aus Luzerner Schilling Folio 285r P577
Hinrichtungsszene aus dem Luzerner Schilling Folio 285r P577


Mehr als nur der Henker: Die "unehrlichen" Ämter

Oftmals hatte der Nachrichter auch das Wasenamt inne und musste tote Tiere abdecken und verlochen. Je nach Grösse der Stadt und Arbeitsaufwand hatte er auch Personal, sogenannte Halbmeister oder Schinderknechte. Diese verrichteten im Auftrag des Meisters auch andere anrüchige Arbeiten, wie z. Bsp. Hunde fangen und totschlagen, Aussätzige aus der Stadt vertreiben und Vergleichbares mehr.

Häufig leitete die Frau des Nachrichters das städtische Frauenhaus, zu dieser Zeit ein steuerlich/politisch reguliertes Bordell.


Systemrelevant und doch verachtet

In der mittelalterlichen Gesellschaft war der Nachrichter «systemrelevant». Trotzdem war er auf der niedrigsten Hierarchiestufe überhaupt. Er war der «unehrlichste» der «Ehrlosen».


Das Tabu: Ein Leben in der Isolation

Der Nachrichter ist tabu. Niemand durfte und wollte mit ihm etwas zu tun haben.
Wenn es zwischen Obrigkeit und dem Nachrichter etwas zu besprechen gab, so wurde der Weibel oder Boten geschickt und der Nachrichter wurde mit «Meister» angesprochen.
Sein Leben war voller Einschränkungen. Alles, was er berührte, wurde gemieden, niemand wollte es anfassen.

Im Wirtshaus war der schäbigste Platz, derjenige des Nachrichters.

Das kann man sich etwa so vorstellen:
Der Nachrichter kommt ins Wirtshaus.
Die Leute schauen, aber niemand grüsst.
Auch er nicht.
Er begibt sich zu seinem Platz,
einem schäbigen Klapptisch
in der hintersten Ecke.
Er nimmt seinen Becher
der an einem Nagel an der Wand hängt
Die Serviertochter kommt und schenkt ihm ein
Er trinkt, legt eine Münze auf den Tisch und geht.

 

In der Kirche waren die hintersten Plätze für die Nachrichter-Familie «reserviert».
Als es dann eine Schule gab, sassen die Henkerskinder auf den hintersten Plätzen, sofern man sie denn überhaupt zur Schule zuliess.

Wer immer mit dem Nachrichter etwas zu tun hatte, wurde ebenso gemieden wie er. Diese Berührungsangst führte häufig zu besonderen Kleidungsvorschriften, um Fremde oder Nichtsahnende zu warnen, dass diese Person «unberührbar» ist.

An manchen Orten musste der Nachrichter eine rote Kappe tragen. Mancherorts war es ihm verboten, seinen Bart und die Haare zu schneiden. Er durfte auch keinen Eid leisten.

Jagen durfte der Nachrichter nur auf Wölfe, sein Vieh musste getrennt von der Herde der Gemeinde grasen. Diese Regeln galten nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie. So hatte auch seine Tochter kaum Aussicht auf eine Ehe – es sei denn, ein anderer Scharfrichter nahm sie zur Frau. Sein Sohn nahm sich die Tochter eines Scharfrichters zur Frau, wenn er denn eine finden konnte.
Das hat dazu geführt, dass es zu Henkerdynastien gekommen ist. So zum Beispiel die Mengis, die allein in Luzern das Nachrichteramt gut 120 Jahre ausführten.


Die andere Seite des Tabus: Der heimliche Heiler

Die gesellschaftliche Isolation führte oft zu grosser Einsamkeit und den damit verbundenen Erkrankungen. Auch Alkoholismus war unter den Nachrichtern weit verbreitet, was die Rohheit und Brutalität noch steigerte.

Der Nachrichter wurde heimlich und des Nachts aufgesucht, da er ein Sachverständiger in medizinischen Fragen war.
Er konnte Heilsäfte, Wundermittel und gar Liebestränke herstellen. Er hatte auch Zugriff auf magische Gegenstände des Hinrichtungsgeschens.

Zum Angebot gehörten:

  • Blut von Hingerichteten (soll gegen Epilepsie und Aussatz helfen)
  • Finger und Zehen von Hingerichteten (ähnlich wie die Hasenpfote bringen diese Glück).
  • Der Strick, mit dem einer gehängt wurde, hatte aufgrund seiner Heilskraft einen besonderen Wert und konnte verkauft werden.
  • Das Hab und Gut von zum Tode verurteilten ging an die Obrigkeit. Aber alles, was der Verurteilte am Körper trug, gehörte dem Nachrichter und konnte auch heimlich verkauft werden.

Vom "Unehrlichen" zum Arzt: Das Ende einer Ära

Nachdem in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Amt des Nachrichters in der Schweiz aufgehoben wurde, haben viele ehemalige Nachrichter eine “Ehrlichsprechung” (Freibrief) erlangt. So konnten sie sich vom Makel der “Unehrlichkeit” befreien und sozial aufsteigen. Manche Söhne von Nachrichterfamilien studierten Medizin und wurden Ärzte. (Z. Bsp. aus der Familien Mengis und Vollmar)


Tod oder Nachrichter heiraten?

Weil es für den Nachrichter so schwierig war, eine Frau zu finden, wurde ihm folgendes Recht gewährt: Er konnte einer zum Tode verurteilten Frau das Leben retten, sofern sie ihn heiratete.
In den alten Büchern steht, dass manche von ihnen den Tod vorzogen.
Es wird aber auch berichtet, dass Johann Baptist Näf, der letzte Scharfrichter des Kantons St. Gallen, 1783 die zum Tode verurteilte Kindsmörderin Elisabetha Hegner heiratete und damit ihr Leben rettete und seines wohl bereicherte. 


Quellen



Siehe auch