Ein Berg der Legenden
Der Pilatus hat schon früh die Aufmerksamkeit und die Einbildungskraft der Menschen in der Schweiz stark angeregt. Das liegt daran, dass er scheinbar sanft aus dem Flachland aufsteigt, dann aber plötzlich in gewaltigen Felsmassen steil emporragt.
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| © Lucerne Tourism / Ivo Scholz | Switzerland Tourism. Hat der Pilatus einen Hut ... |
Die Alten nannten ihn "Fractus mons" (gebrochener Berg) oder Frakmont. Sie hielten ihn für nichts anderes als einen zersprengten und auseinandergebrochenen mächtigen Hügel.
Da sich die Menschen der Vorzeit die Urgewalten, die den Berg einst spalteten, nicht erklären konnten, sahen sie darin die Werke von bösen Mächten. Weil Feuer, Wasser, Gewitter und Blitze die Anwohner seit jeher erschreckten, glaubten sie, dass diese Mächte auf dem Berg ihr Unwesen trieben. In der Unwissenheit des Mittelalters war klar: Dort wohnten Geister. In den Geschichten hört man von Drachen, Gespenstern, Geistern, Herdmännlein, Toggelis und selbst der Türst und die Sträggele trieben dort ihr Unwesen.
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| Luzerner Schilling, 1513, Folio 89r, S. 177. Ein heftiges Gewitter überflutete den Krienbach. Geschiebe (Geröll und Holz) riss das Schutzgatter und die Brücke zwischen Barfüßertor und Ketzerturm weg und verursachte große Schäden in der Kleinstadt Luzern am 24. Juni 1473. |
Die historische Angst vor dem Pilatus
Um die Pilatus-Sage richtig zu verstehen, muss man sich in die Ängste der Luzerner Bevölkerung einfühlen. Bis vor etwa 150 Jahren war die Stadt immer wieder von heftigen Überschwemmungen des Krienbaches betroffen. Bei Gewittern am Pilatus schwoll dieser Bach rasch an und führte große Mengen Wasser und Geröll mit sich, was nicht selten die gesamte Kleinstadt überflutete. So wurde beispielsweise im Jahr 1566 die Kaserne samt der Spreuerbrücke weggerissen.
Der Sage nach soll ein Student aus Salamanca diese Geschichte über den Fluch des Pilatus in Luzern verbreitet haben. Für die damaligen Bewohner war diese Sage eine plausible Erklärung für die zerstörerische Wut des Berges. Erst als der Krienbach vor etwa 150 Jahren umgeleitet wurde und der Großteil seines Wassers bei Malters in die Kleine Emme fließt, endete die Gefahr. Heute fließt der harmlos gewordene Restbach unter der Burgerstraße beim Nadelwehr in die Reuss.
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| Ulrich Gutersohn (1862-1946), das Korporationsgebäude, 1885. In der Mitte der Krienbach, im Hintergrund Pilatus |
Die Pilatus-Sage – Das Urteil und der Fluch
Die Legende besagt, der Berg sei der letzte Ruheort des römischen Statthalters Pontius Pilatus, der Jesus Christus unschuldig verurteilt hatte.
Der kranke Kaiser Tiberius in Rom sandte seinen Diener Albanus nach Jerusalem, um den Heiler Jesus Christus zu ihm zu bringen. Albanus traf dort auf den Statthalter Pilatus, der ihm keine Antwort geben wollte, da er Jesus unschuldig zum Tode verurteilt hatte. Albanus fand die Frau Veronika. Sie berichtete ihm vom Tod und der Auferstehung Jesu. Veronika besaß das Schweißtuch, das sie Jesus auf seinem Leidensweg gereicht hatte, damit er sich das Gesicht abwische, und auf das das Bildnis Jesu auf wundersame Weise abgedruckt war.
Veronika begleitete Albanus nach Rom. Als der Kaiser das Tuch sah und es mit Andacht anschaute, wurde er sofort von all seinen Gebrechen geheilt.
Der geheilte Kaiser ließ Pilatus nach Rom bringen, um ihn zu bestrafen. Als Pilatus zum ersten Mal vor den Kaiser trat, trug er Jesu Gewand. Obwohl Tiberius ihn verurteilen wollte, verflog sein Zorn jedes Mal, und er konnte Pilatus kein Leid antun. Der Kaiser wusste nichts von der schützenden Kraft des heiligen Rockes. Er ließ Pilatus zurück in den Kerker bringen.
Am zweiten Tag trat Pilatus wieder vor den Kaiser, und der Zorn verschwand erneut. Tiberius konnte ihn wieder nicht richten. Da wandte sich Tiberius an Veronika und fragte um Rat. Sie erkannte, dass Pilatus den heiligen Rock Jesu Christi trug. Veronika riet dem Kaiser, Pilatus das Gewand ausziehen zu lassen.
Am dritten Tag ließ der Kaiser Pilatus den Rock abnehmen. Sobald Pilatus den Rock abgelegt hatte, kehrte der Zorn des Kaisers zurück, und Tiberius verurteilte ihn zum Tod.
Pilatus entzog sich der Hinrichtung: Zurück im Kerker entleibte er sich selbst mit einem Messer.
Der Geist im Bergsee
Der Leichnam des Pilatus verursachte überall, wo man ihn begrub, großes Ungewitter und schreckliche Dinge. Deshalb warf man ihn zuerst in den Tiber in Rom, doch auch dort konnte man die Leiche wegen des Unwetters nicht lassen. Dann brachte man den Leichnam zur Stadt Lausanne und warf ihn in die Rhone. Abermals kehrten die Teufel zurück und verursachten Unheil.
Schließlich wurde die Leiche auf den Berg bei Luzern geschafft und in einen See geworfen. Dieser Berg hieß Fräkmünd und der See heisst Pilatussee. Die Menschen glaubten, wenn jemand den Geist des Pilatus störte, würde dieser schreckliches Unwetter mit Hagel und Donner bringen.
Wie man den Geist nicht stören durfte
Die Menschen glaubten, dass sich der Geist des Pilatus einmal im Jahr, nämlich am Karfreitag, mitten im See aufrichten dürfe. Dann thronte er in römischer Statthalter-Tracht auf seinem Richterstuhl. Die restliche Zeit verhielt er sich im Wasser ruhig und friedlich – vorausgesetzt, man ließ ihn ungestört.
Man durfte ihn auf keinen Fall reizen. Sobald jemand am See laut sprach, seinen Namen rief oder Holz und Steine ins Wasser warf, brach sein Zorn los: Der Himmel wurde schwarz, Blitze zuckten, und der Donner grollte. Schreckliche Unwetter und Zerstörung fielen über das Land Luzern herein.
Aus diesem Grund war es in der Folge streng verboten, den Berg aus Neugier oder Übermut zu besteigen.
Der Kampf gegen den Aberglauben
Soweit die Legende.
Es ist historisch belegt, dass es verboten war, den Pilatus zu besteigen. Nur die Hirten durften sich dort aufhalten. Die Hirten und Sennen auf der Alp wurden von der Regierung in Eid und Pflicht genommen, niemanden zum Pilatussee hinaufgehen zu lassen.
Die Verbote wurden sehr ernst genommen:
- Schon im Jahr 1387 wurden sechs Geistliche eingesperrt und ausgewiesen, nur weil sie den verrufenen See besuchen wollten.
- Im Jahr 1564 kamen zwei Männer ins Gefängnis, weil nach ihrer verbotenen Exkursion zum See ein heftiges Gewitter über dem Berg losbrach.
Doch dieser Aberglaube verlor seine Macht, vor allem durch das Wirken des Luzerner Stadtpfarrers Johannes Müller. Im Jahr 1585 stieg Müller in großer Begleitung zum See hinauf. Er forderte den Geist des Pilatus demonstrativ heraus, indem er Steine ins seichte Wasser warf und Leute anwies, in den See zu waten. Es geschah jedoch nichts: Es brach weder Sturm noch Ungewitter los, und der Himmel blieb wolkenlos klar.
Um diesem als Unsinn erkannten Volksglauben endgültig ein Ende zu setzen, beschloss der Rat von Luzern die Aufhebung aller Verbote. Zudem verfügte der Rat im Jahr 1594, den See abzugraben.
Heute wissen wir: Woher der Name Pilatus stammt
Der Name Pilatus geht nicht auf Pontius Pilatus zurück.
Er stammt aus dem Lateinischen:
- Lateinisch: Pileus bedeutet "der Hut".
- Abgeleitet: Pileatus heißt "der einen Hut trägt".
Der Berg wurde so genannt, weil er oft eine Wolkenhaube trägt. Dazu gibt es auch ein Sprichwort, das jeder Luzerner kennt:
Hat der Pilatus einen Hut,
wird das Wetter sicher gut.
Hat der Pilatus einen Degen,
wirds bestimmt regnen.
Hat der Pilatus eine Kappe,
wird das Wetter Knappe (instabil).
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| Ulrich Gutersohn, (1862-1946), der Wettervers, 1900, am Karfreitag thront Pilatus auf dem Richtstuhl. |
Der Pilatussee ist heute ausgetrocknet, aber immer noch auf jeder Karte eingetragen, auch auf Google maps.
Quellen:
- Luzerner Sagen, Kuno Müller, Verlag Eugen Haag Luzern 1964, S. 73
- Pilatus, Sagen und Geschichten, Hans Pfister, Verlag Eugen Haag Luzern 1980, S. 9
- Luzern in der guten alten Zeit, Hans Kurmann, Harlekin Verlag 1982.



