Im Juni 1654 trafen beim Roten Turm zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite die 74-jährige Zöllnerin Brigita Rapp (Rabi), eine einfache Frau, die ihren Lebensunterhalt im Dienst der Stadt bestritt. Auf der anderen Seite Junker Walter Ludwig Cysat.
In dieser Begegnung zeigte sich der Wandel einer bedeutenden Familie. Walter Ludwigs Grossvater war der berühmte Stadtschreiber Renward Cysat gewesen – ein Mann von enormer Bildung und Schaffenskraft, der sich seinen Platz in der Luzerner Elite durch unermüdliche Arbeit selbst aufgebaut hatte. Zwei Generationen später war dieser soziale Aufstieg vollendet: Sein Enkel Walter Ludwig musste sich seinen Rang nicht mehr erkämpfen; er wurde bereits als „Junker“ geboren und bewegte sich mit dem Selbstverständnis der etablierten Oberschicht durch die Stadt.
Dieses Machtgefälle bekam Brigita Rapp zu spüren. Junker Cysat pflegte die alte Frau oft spöttisch zu fragen, ob sie schon auf der „Bratellenmatt“ gewesen sei – eine gefährliche Anspielung auf den angeblichen Hexentanzplatz. Die Zöllnerin, abhängig von der Gunst der Vorbeigehenden, spielte das Spiel mit. Als sie ihm eines Tages dienstbeflissen in den Mantel half, erlaubte sie sich eine Vertraulichkeit, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Was für ein feiner Herr ihr doch seid.“
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| Visualisierung: 1=Nölliturm, 2=Museggtor, 3=Zollhaus. Brigita klopft dem Junker auf die Schulter. |
Der Enkel des grossen Gelehrten erinnerte sich an das Klopfen auf die Schulter und klagte die Zöllnerin an. Was als Scherz begonnen hatte, wurde nun tödlicher Ernst. Unter der Folter gestand Brigita Rapp schliesslich, eine Hexe zu sein. Am 15. November 1654 wurde sie zum Tode verurteilt und verbrannt.
Der Hexenwahn forderte jedoch noch ein weiteres Opfer: Nur elf Tage später wurde auch Brigitas 76-jährige Schwester Margret verbrannt, die sie unter der Folter denunziert hatte.
So besiegelten die Laune und der Aberglaube eines Cysat-Nachkommens das Schicksal zweier alter Frauen.
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| Originaltext: Th. von Liebenau, 1881, das alte Luzern, S. 280 |
Historische Anmerkungen
- Der Ort: Der „Rote Turm“ heisst heute Nölliturm. Den St. Karliquai und die Durchfahrt durch den Nölliturm gab es damals noch nicht. Der alte Weg stadtauswärts besteht heute noch; er führt vom Mühleplatz auf der Museggstrasse in Richtung Kaserne (heute Pädagogische Hochschule) und dann links auf die Brüggligasse zum Turm.
- Soziale Stellung: Obwohl die Bezeichnung „Zöllnerin“ nach einem offiziellen Amt klingt, war Brigita Rapp vermutlich nur eine arme Witwe, die den Job mit 74 Jahren noch zum nackten Überleben brauchte. Ihre niedrige Stellung zeigt sich deutlich daran, dass sie dem Junker wie eine Dienerin in den Mantel half – ein klares Zeichen ihrer Unterwürfigkeit. Dieses enorme Machtgefälle machte sie schutzlos. Weil sie am Stadttor jedem bekannt war, wurde sie zur leichten Zielscheibe für den Spott der Oberschicht und gefährliche Gerüchte.
- Verkehrslage: Auf der rechten Reussseite flussabwärts herrschte vermutlich wenig Verkehr. Die meisten Waren und Personen aus dem Entlebuch und Bern kamen über die Bernstrasse, jene von Rothenburg und Basel über die Baselstrasse durch das Sentitor und Baslertor auf der anderen Flussseite in die Stadt.
- Der Bauernkrieg: Eine Ausnahme bildete lediglich die Zeit kurz vor dem Bauernkrieg im Mai 1653. Damals war hier viel los, als aufgebrachte Entlebucher Bauern auf den Matten vor dem Nölliturm lagerten und ihren Unmut zum Ausdruck brachten. Sie wurden von der Stadtherrschaft vertröstet – und wie sich später herausstellte, belogen – und zogen wieder ab.
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| Der Nölliturm, 1901, Joseph Clemens Kaufmann (1867-1926), Bild: Korporation Luzern, gemeinfrei. |
Quelle: Theodor von Liebenau, 1881 das alte Luzern. S. 280


